Stadtrat Daniel Bahrmann

Stadtrat für die SPD in Meißen

Geschichten im Advent

Politik ist nicht alles. In der Weihnachtszeit gibt es auch Zeit für Geschichten.

Eine unentdeckte Tür in der Mauer

Als der erste Schnee über Meißen fiel und die Dächer der Altstadt wie mit Puderzucker bestäubt dalagen, zog es mich hinaus in die Gassen. Der Winter macht die Stadt leiser, die Touristen sind wieder fort, und zwischen den Fachwerkhäusern hallen nur noch die Schritte der wenigen, die sich in die Kälte wagen. An diesem Nachmittag trug die Elbe einen dünnen Schleier aus Nebel, und selbst der Dom schien ein Stück weiter weg zu stehen als sonst, als hätte der Frost ihn ein wenig zurück in die Ferne geschoben.

Ich hatte keinen Plan, nur das vage Bedürfnis, einmal anders abzubiegen als sonst. Also ließ ich meine gewohnten Wege hinter mir, bog in eine schmale Gasse ein, die sich zwischen zwei bröckelnden Hinterhöfen hindurchwand wie ein vergessenes Flussbett. Der Schnee lag hier unberührt, kein Fußabdruck außer meinen. Über mir klirrten vereiste Äste gegeneinander, wenn ein Windstoß durch die Häuserzeilen zog. So kam ich zu diesem alten Teil der Stadtmauer, den ich noch nie bewusst wahrgenommen hatte. Die Ziegel wirkten älter als die übrigen. Sie waren von Moos überzogen, an manchen Stellen ausgebrochen, als hätten Generationen von Wintern an ihnen genagt. Es roch nach feuchtem Stein und nach dem Laub der vergangenen Jahre, das unter dem Schnee verborgen lag. Ein paar dürre Ranken kletterten an der Mauer empor, braun und spröde, aber immer noch fest verankert, als weigerten sie sich, den Sommer endgültig loszulassen.

Zwischen zwei Mauervorsprüngen fiel mir etwas auf: eine kleine, bemooste Steintreppe, die halb im Erdreich verschwunden war, als hätte die Stadt selbst versucht, sie im Laufe der Zeit zu verschlucken. Die Stufen waren schmal und unregelmäßig, jede einzelne mit einer dünnen Schneeschicht überzogen, auf der sich das trübe Licht des grauen Himmels niederließ. Am oberen Ende der Treppe zeichnete sich der Umriss einer zugemauerten Tür ab – ein schmaler, spitzbogiger Eingang, dessen Konturen der Frost mit weißen Linien nachgezeichnet hatte. Der Stein darum herum war dunkler und feuchter, als hätte er mehr Erinnerungen gespeichert als der Rest der Mauer.

Ich blieb stehen und spürte, wie mir die Kälte schon in die Schuhe kroch. Es war, als hätte ich aus Versehen eine Seite in einem längst vergessenen Buch aufgeschlagen. Diese Tür hatte offensichtlich einmal eine Bedeutung gehabt. Man verschließt nichts so sorgfältig, das nie wichtig war. Ich stellte mir vor, wie hier vor Jahrhunderten jemand dieselben Stufen hinaufgestiegen war. Damals trpfte vielleicht Regen auf den Umhang oder in der Sommerhitze hing Staub in der Luft.

Ein Windstoß wirbelte feine Schneeflocken auf, die mir ins Gesicht trieben. Ich blinzelte und trat näher. Einige Steine schienen neueren Datums zu sein. Sie waren heller als die übrigen, als hätte jemand den Durchgang erst später verschlossen. Mit den Fingern fuhr ich eine der Fugen entlang. Der Mörtel war brüchig und bröselte an manchen Stellen schon zu feinem Sand. Die Kälte machte meine Finger taub, doch in mir wuchs eine eigentümliche Wärme: eine Mischung aus der Neugier, die man als Kind vor verschlossenen Kellertüren spürt, und der Ahnung, dass hier ein Stück Stadtgeschichte vor mir lag.

Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete die Treppe, die Tür und die Mauer. Über mir ragte der Burgberg auf, weiß überzuckert, und dahinter erhob sich das Bischofsschloss, das von unten nur zu erahnen war. Plötzlich kam mir der Gedanke, der nicht meiner zu sein schien: Was, wenn diese zugemauerte Tür einst der Eingang zu einem geheimen Gang nach oben gewesen war? Nicht der offizielle Weg über die Schlossbrücke, den alle kannten, sondern ein schmaler, versteckter Pfad, den nur wenige nutzen durften.

Vielleicht war es einst der Gang der Boten, die nachts ungesehen zum Schloss mussten, die Briefe im Mantel und das Herz voller Angst, entdeckt zu werden. Ich sah sie vor mir, wie sie leise die Stufen hinaufliefen, die Hand an der kalten Mauer, während unten in der Stadt die Laternen flackerten und der Wind vom Fluss die Gassen auskühlte. Vielleicht war es aber auch der Weg einer jungen Frau, die man nicht am Tor sehen durfte, weil ihre Besuche oben im Schloss entweder unerwünscht oder viel zu erwünscht waren. Sie wäre im Schutz der Dunkelheit durch diesen Gang geschlüpft, die Schuhe in der Hand, damit ihre Schritte nicht widerhallten.

Einen Moment lang verschwamm die Stadt um mich herum. Nur die Tür blieb stehen, als würde sie mich direkt anblicken. Der Schnee dämpfte alle Geräusche. Selbst das ferne Rauschen des Verkehrs drang nicht mehr zu mir durch. Ich hörte nur meinen Atem und das leise Knirschen des Schnees, während ich um die Treppe herumging und versuchte, mir vorzustellen, wo der Gang unter mir verlaufen könnte. Vielleicht zog er sich im Inneren des Burgbergs hin, knapp unter der Oberfläche, an Kellergewölben, alten Weinfässern und vergessenen Lagerräumen vorbei, in denen sich schon lange niemand mehr aufhielt.

Als Kind hatte mir einmal jemand erzählt, dass Meißen von geheimen Wegen durchzogen sei, von Tunneln zwischen Klosterkirche und Burg, durch die die Burgherren im Notfall verschwinden konnten. Damals hielt ich das für ein Märchen, genauso wie die Geschichten von verborgenen Schätzen in den Mauern. Doch jetzt, da ich vor dieser Tür stand, wirkten jene Erzählungen auf einmal weniger fantastisch. Die Stadt hatte so viel gesehen – Kriege, Brände, Hochwasser –, warum also nicht auch geheime Wege, die nur wenigen bekannt waren?

Ich stellte mich vorsichtig auf die erste Stufe, um nicht auszurutschen. Der Stein gab einen dumpfen, beinah hohlen Klang von sich, als ich mein Gewicht darauf verlagerte. Für einen Moment war ich mir sicher, etwas zu spüren: ein kaum wahrnehmbares Vibrieren, als würde tief unter mir noch ein leiser Nachhall vergangener Schritte schwingen. Ich legte die Hand flach an die Mauer, genau neben die zugemauerte Öffnung, und schloss die Augen. Der kalte Stein brannte in meiner Handfläche, doch hinter der Kälte schien etwas zu lauern, das wärmer war als jeder Heizkörper: die Gewissheit, dass Orte Erinnerungen speichern wie Filme auf unsichtbaren Spulen.

Vielleicht war dieser Gang im Dreißigjährigen Krieg benutzt worden, um Kinder und alte Leute in Sicherheit zu bringen, während unten auf dem Markt Soldaten plünderten. Vielleicht war er in späteren Jahren einfach vergessen worden, weil niemand mehr Bedarf dafür hatte. Die Stadt hatte sich verändert, neue Mauern waren gebaut worden, andere eingerissen. Und wie so vieles, das seinen offensichtlichen Zweck verlor, wurde auch dieser Durchgang einfach zugemauert, übertüncht und übersehen. Jahrzehnte vergingen, Ranken wuchsen darüber, Moos setzte sich fest und irgendwann blieb nur noch eine Form in der Mauer zurück, die nicht einmal mehr einen Namen hatte.

Ich öffnete die Augen wieder. Der Himmel war inzwischen noch grauer geworden, die Dämmerung kroch zwischen die Häuserzeilen und die ersten Lichter begannen in den Fenstern ringsum aufzuleuchten. Hinter einem schneebeladenen Busch rechts von mir hörte ich ein leises Flattern. Eine Amsel war erschrocken aufgefluogen, weil ich ihr zu nah gekommen war. Einen Augenblick lang war ich versucht, mit den Händen ernsthaft an der Mauer zu kratzen, einen der bröseligen Steine zu lockern, nur um zu sehen, ob dahinter wirklich Dunkelheit lauerte oder vielleicht doch ein Hohlraum, ein vergessener Hauch von Gang.

Aber Meißen lehrte auch Respekt vor dem, was gewesen war. Jede Mauerkante, jede Treppe, jeder Torbogen gehörte nicht nur der Gegenwart, sondern auch den Geschichten, die sie geformt hatten. Und so blieb meine Hand schließlich nur auf dem kalten Stein liegen, ohne mehr zu tun, als für einen Moment Verbindung aufzunehmen. Ich stellte mir vor, wie der geheime Gang, wenn es ihn denn noch gab, im Inneren des Burgbergs weiterträumte, gefüllt mit Staub und Spinnweben, aber immer noch bereit, eines Tages wieder benutzt zu werden.

Vielleicht wird bei Bauarbeiten oder einer aufwendigen Sanierung in ein paar Jahren tatsächlich jemand auf das Gewölbe stoßen. Vielleicht wird eine Mauer aufgestemmt und dahinter öffnet sich ein schmaler Gang, der direkt zum Schloss hinaufführt. Die Zeitungen werden berichten, Stadtführer werden neue Anekdoten in ihre Rundgänge einbauen und die Menschen werden über die Ingenieurskunst der Vergangenheit staunen. Vielleicht sitze ich dann am Fenster meines Arbeitszimmers, lese die Schlagzeile und erinnere mich an diesen Wintertag, an die einsame Treppe im Schnee und an die zugemauerte Tür, die mir damals schon zuflüsterte, dass sie mehr wusste, als sie preisgab.

Für den Moment allerdings blieb der Gang ein Geheimnis, das nur in meinem Kopf existierte – eine leise Möglichkeit unter den Pflastersteinen von Meißen. Ich stieg die Stufen wieder hinunter; mein Abdruck im Schnee war der einzige Beweis dafür, dass heute jemand hier gewesen war. Als ich mich noch einmal umdrehte, schien die zugemauerte Tür bereits wieder ein Stück weiter im Weiß des Winters zu verschwinden, als wolle sie mir sagen: Die Stadt gibt ihre Geheimnisse nur für Augenblicke preis. Der Rest ist der Fantasie überlassen.


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